Was den Unteroffizier Klingelbein rausriß.

Humoreske von Arthur Roehl
in: „Schwerter Zeitung” vom 29.7.1899
in: „Hagener Zeitung” vom 2.3.1898
in: „Lippische Tageszeitung” vom 19.3.1898


Unteroffizier Klingelbeins Force war die Gymnastik. Im ganzen Regiment gab es keinen Turner wie ihn. Er schlug sechs Mal hintereinander die Kniewelle am Reck, schoß über den längsten Kasten glatt wie ein Aal und kam ohne Absprung drei Fuß hoch über die Schnur.

Er war ein geborener Akrobat.

Eines Tages bei der Besichtigung des Regiments durch den Herrn General widerfuhr es ihm, daß gerade, wie er dabei war, eine der schneidigsten Wellen seines Lebens zu exekutiren, die Reckstange unter ihm brach.

Die Stange knackte, splitterte, barst. Erschrocken fuhren, der Herr General und seine vor dem Reck postirte hohe Suite zwei, drei Fuß zurück. Ein Unglück schien unvermeidlich. Das Genick des um die brechende Stange sich schwingenden Turners stand, wenn er auf dem Boden zu Falle kam oder gar irgend einem der vor dem Reck haltenden hohen Herren an die Nase heranflog, auf dem Spiel.

Die inspizirenden Herren stoben denn auch voll Entsetzen so weit sie konnten, auseinander.

Zur größten allseitigen freudigen Ueberraschung kam der Unteroffizier indeß unversehrt, wie eine von einem Dach abgestürzte Katze, auf den Zehen zu Boden. Und kokett hielt er dabei beide Stücke der zerbrochenen Stange in seinen Händen. Es fehlte nur noch, daß er sich vor den Inspizienten verneigte, daß er wie ein Seiltänzer aussah, der für seinen ihm gelungenen Trik seinen Applaus einzuheimsen begehrt.

Der Herr General floß über von Lob, der der Herr Oberst und die Herren Majore wiegten anerkennend ihre Helmspitzen, und auch die Herren Hauptleute und Leutenants nickten sich voll Beifall zu. Sie waren froh, daß sie nicht die Eisenzwecken der harten Kommißstiefel des Unteroffiziers ins Gesicht bekommen hatten.

Natürlich war ein Mann, der solch eine Leuchte in der edlen Kunst der Turnerei war, auch darauf bedacht, daß die Leute seiner Korporalschaft darin etwas zu leisten vermochten. In seiner Korporalschaft wurde die Turnerei kultiviert, als ob sie der Zweck und das Endziel des königlich preußischen Militärdienstes wäre. Bis in die Nacht hinein widmete sich Herr Unteroffizier Klingebeil seinen Leuten. Natürlich nicht in dem vorschriftsmäßigen Dienst auf dem Exerzierplatz, dessen Stunden genau geregelt sind, sondern privatim daheim in seiner Korporalschaftsstube in der Kaserne. Da that er seinem Turnerherzen überhaupt erst recht gütlich. Er hätte seinen Herren Vorgesetzten, wenn sie ihn hätten sehen wollen, mit ganz anderen Kunststücken, — Radschlagen und auf dem Kopf stehen — aufwarten können, wozu das Exerzier–Reglement sich nur nicht versteigt.

Dafür sucht er dieser höheren Kunst zwischen den vier Wänden seiner Korporalstube zu ihrem Recht zu verhelfen, und mit Stolz und Genugthuung erfüllte es sein Herz, daß er fast alle seine Leute bereits soweit gebracht hatte, daß sie minutenlang Kopf stehen konnten; zwischen den hoch übereinander gestellten Mannschaftsbetten der Kasernenstube übte er aber auch beinahe täglich dies Kunstück mit ihnen ein.

Er ließ sie in den langen Winterabenden wohl drei vier Mal den Abend zum Kopfstehen antreten.

„Battaillon auf den Kopf,” kommandirte er. Und dann kamen die Leute, denen die Passion des Unteroffiziers meistens einen kolossalen Spaß machte, nahmen in der Mitte der Kasernenstube Schulter an Schulter mit Herrn Klingebeil Aufstellung, Herr Klingebeil zählte, und im Nu stand die ganze Mannschaft auf dem Kopf da, und hoch in die Luft ragten die Beine. Und das ging alles so leicht und so glatt, als ob auf dem Exerzierhof „rechtsumH oder „linksum” kommandiert würde.

Ach, seufzte Herr Klingebeil, wenn er einmal eine solche Vorstellung vor seinen Vorgesetzten, vor dem Herrn Hauptmann, vor den Herrn Lieutenants, vor dem Herrn Feldwebel geben könnte! Die würden staunen: Indeß er begriff, daß es besser war, daß sie nicht sahen, was er für Leistungen erzielte; er wußte nur zu gut selbst, daß sie weit über das ExerzierReglement hinausschossen und er sich statt Belobigung vielleicht nur einen höllischen Rüffel hätte holen können.

Eines Abends hatte er kurz vor dem allgemeinen Zubettgehen noch einmal das Kunststück des Kopfstehens ausführen lassen.

„Leute,” hatte er sich die Hände reibend gesagt, „Ihr seht, was Ausdauer und Uebung und Liebe zur Sache vermag; denn man kann wohl sagen, daß Ihr es jetzt schon zu etwas gebracht habt. Pompöser kann keine Seiltänzregesellschaft auf dem Kopf stehen, als vorhin wir. Machen wir also, ehe das Licht ausgelöscht wird, rasch noch einmal das Kunststück. Ich verschaffe Jedem in nächster Woche auch wieder einen Abend Urlaub.”

Der in Anssicht gestellte Abend–Urlaub wirkte. Geschwinder als je stand alles auf seinem Platz und schneidiger als je flogen die Beine hoch in die Luft. Die ganze Mannschaft stand wie eine von der andern Seite des Globus hergewehte Antipodengesellschaft da, als sich plötzlich die Thür der Korporalschaftsstube aufthat. Die Thür ging so leise auf, daß die Kopfsteher es gar nicht bemerkten, und sich in ihrem Exerzitium auch nicht stören ließen.

Erst als der Jemand, der die Thür aufgemacht und den Kopf hereingesteckt hatte, mit einmal die Thür hastig und laut wieder ins Schloß warf, merkte man, daß man einen unberufenen Zuschauer gehabt. Und flugs wirbete alles, Herr Klingebeil zuerst, auf die Beine herum.

„Wer war da?” rief er. „Hatt's keiner gesehen?”.

.Was hatte einer zu der Stunde in seine Korporalschaftsstube hineinzublicken? In seiner Stube hatte keiner etwas zu suchen!

Er lief an die Thür, um sich zu vergewissern, wer der Eindringling war. Der Eindringling war — er sah es beim ersten Blick, den er auf den langen Kasernenkorridor hinauswarf, — der Eindringling — sagVte er zu sich — war der Herr Hauptmann.

Der Korridor war, soweit er sich überblicken ließ, leer, nur ganz am Ende sah er die Silhouette des gestrengen Kompagnie–Chefs auf die Treppe zusteuern.

Es konnte niemand anders gewesen sein, als er, der in seine Korporalschaftsstube geblickt.

Herrn Klingebeil ward kalt und heiß bei der Entdeckung. Der Herr Hauptmann hatte die Kaserne vor dem Zubettgehen besichtigt, und in seiner Stube hatte ihn — allmächtiger himmlischer Vater — hatte ihn die ganze Mannschaft auf dem Kopf stehend empfangen. Klingebeil sah das Schlimmste voraus. Er kannte den Hauptmann. So lange der Herr Hauptmann ranzte und fluchte, war nichts von ihm zu befürchten. Aber wenn er schwieg, dann war er gefährlich, dann war sein Geduldsfaden entzwei; und der Herr Hauptmann hatte beim Anblick des Unfugs, wofür er die unvorschriftsmäßige Kunstproduktion in seiner Stube doch sicherlich nur angesehen, geschwiegen. Nicht ein Wort, keine Silbe hatte er gesagt. Stumm hatte er Verwunderung und Wut hinuntergewürgt. Und morgen — morgen — Herr Klingebeil wälzte sich die ganze Nacht angstvoll auf seinem Lager und grübelte, was nur morgen der Hauptmann mit ihm anfangen würde.

Indes er fing gar nichts an. Er schnitt zwar auf dem Kasernenhof ein fuchswildes Gesicht. Herr Klingebeil beobachtete mit dem Blick des bösen Gewissens sein ungehaltenes Mienenspiel, jede Minute darauf gefaßt, daß die Katastrophe über ihn hereinbrechen müßte, aber die Katastrophe brach nicht herein.

In seiner Angst und Ungewißheit wandte er sich nach den Dienststunden an den Feldwebel.

„Herr Feldwebel,” sagte er, „verzeihen Sie, Herr Feldwebel, hat Ihnen der Herr Hauptmann nichts von mir gesagt?”

Das Schweigen des Kompagnieschefs, weit entfernt ihn zu beruhigen, schlug ihm auf seine, ihn sonst so wenig belästigenden Nerven.

„Was soll er von Ihnen gesagt haben,” gab die Mutter der Kompapnie geringschätzig zur Antwort.

Herr Klingebeil gestand, was er verbrochen hatte und nun für Beklemmungen litt, und immer ernster und ernster wurden die Züge des Herrn Feldwebels bei seinem Geständnis. Er war Pessimist.

„Brrr” machte er. „Wenn er nur nicht denkt, der Herr Hauptmann, daß den unvorschriftsmäßigen abendlichen Turnübungen der Leute ein unbefugter Zwang von Ihrer Seite zu Grunde liegt. Das könnte Ihnen schlecht bekommen, Unteroffizier, — sehr schlecht.

Jawohl; Herr Klingebeil wußte es selbst, daß mit so etwas die Kriegsgerichte nicht spaßten. Von so etwas konnte doch auch gar nicht die Rede sein. Er bat den Herrn Feldwebel sich überzeugt zu halten, daß alle seine Leute an den Turnübungen in der Korporalschaftsstube freiwillig und gern teilnahmen.

Das hielt der Herr Feldwebel, als er sich bei erster Gelegenheit vor dem Herrn Hauptmann als Sachführer Herrn Klingebeils aufzuwerfen erlaubte, hauptsäglich für nötig zu betonnen. Er zeigte dem Herrn Hauptmann die Turnerbegeisterung des Unteroffiziers, von der die ganze Korporalschaft angesteckt wäre und trug ihm die Bitte des Herrn Klingebeils vor, die Ungehörigkeiten, denen er bereits sich schuldig gemacht shabe, nicht unabsichtlich zu ahnden.

Der Hauptmann begriff offenvar die Verteidigungsrede des Feldwebels nicht gleich. Er machte ein ziemlich verdutztes Gesicht.

„Was ist das mit dem Unteroffizier Klingebeil?” sagte er. „Was will der von mir?”

Der Feldwebel begann sein Plaidoyer von vorn. „Verzeihen, Herr Hauptmann,” sagte er, „der Herr Hauptmann werden sich erinnern, daß Donnerstag abend die Kaserne die Ehre hatte, von Herrn Hauptmann kurz vor der Zapfenstreichstunde besichtigt zu werden.” —

„Ja,” unterbrach der Hauptmann die Rede.

„Die Ungehörigkeiten nun, auf die der Herr Hauptmann in der Stube des Uneroffizier Klingebeil stießen,” fuhr der Feldwebel fort.

„Was für Ungehörigkeiten waren das?” stieß der Hauptmann noch ungeduldiger hervor.

„Die ganze Manschaft der Stube stand, als der Herr Hauptmann hineinsahen, Kopf, ohne Ahnung, daß der Herr Hauptmann sich in der Kaserne befände, vergnügte sich der Unteroffizier Klingebein mit seinen Leuten mit Turnen —”

„Nicht möglich!” rief der Herr Hauptmann. Er schlug sich mit der flachen Hand an die Hüfte und machte ein Gesicht, als ob ihm Wunder welch ein Licht aufginge. „Also Kopf gestanden haben die Kerle. Na, das war mir doch gleich so.”

„Ja,” fuhr der Feldwebel fort, „der Herr Hauptmann wissen, was der Unteroffizier Klingebein für ein Turner ist, und seine ganze Korporalschaft eifert seinem Beispiel nach.”

„Und steht mit ihm Kopf,” unterbrach ihn der Hauptmann, aber er schmunzelte dabei und sah so aufgeräumt aus, wie sich der Feldwebel nicht entsann, ihn je gesehen zu haben. „Na, sagen Sie ihm nur, Feldwebel, daß es noch einmal hingehen soll, aber daß ich mir für das nächste Mal entschieden einen vorschriftsmäßigeren Empfang in seiner Stube ausbitten muß. Das sagen Sie ihm aber.”

Der Herr Hauptmann hatte, als er den Feldwebel entließ, längst wieder seine strengste Dienstmiene aufgesteckt. Sowie er aber allein war, warf er sie auch wieder von sich.

„Das ist nicht schlecht,” platzte er lachend heraus. „Die Kerle haben also wirklich richtig Kopf gestanden.!”

Er faßte sich schmunzelnd ans Kinn.

„Dann war es so schlimm mit mir doch noch nicht,” dachte er bei sich.

Er hatte nämlich an dem Abend ein schweres Junggesellen–Essen hinter sich gehabt und zu dem abendlichen Gang in die Kaserne hatte ihn nur der Gedanke verleitet, daß ihm Bewegung in der Nachtluft nicht schädlich sein könnte. Und einmal in der Kaserne, glaubte er auch seiner Kompagnie seine Anwesenheit zu der ungewohnten Stunde zu merken geben zu müssen. Indes er steckte den Kopf nur in ein einziges der Mannschaftszimmer hinein. Dann hatte er genug. Jedenfalls hielt er es für geraten, für den Abend von jeder weiteren Inspektion seiner Kompagniestuben abzustehen. Der Blick, den er in die Korporalschaftsstube des Unteroffizier Klingebeil geworfen, ließ ihn befürchten, daß in dem Zustand, in dem er sich befand, die ganze Kompagnie vor ihm Kopf stehen würde.

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